Der Reigen (Gedicht)
Der Reigen (arabisch المواكب al-Mawākib) ist ein 1919 erschienenes Gedicht des libanesisch-amerikanischen Schriftstellers Khalil Gibran. Es ist die längste und bedeutendste seiner wenigen Versdichtungen und zugleich eines der letzten Werke, die er in arabischer Sprache publizierte.
Aufbau der Dichtung und Hintergrund
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Reigen besteht aus insgesamt 203 Zeilen und 18 zweigliedrigen Gesängen. Er ist inhaltlich ein Dialog zwischen der oft ins Zynische und Nihilistische abgleitenden Klage über die sich in der Gesellschaft offenbarenden menschlichen Schwächen auf der einen und der sinnlichen Antwort einer im mystischen Denken stehenden Stimme der Natur auf der anderen Seite. Aufgrund des repetitiven, geradezu monotonen Charakters der Rede der naturverbundenen Stimme erhält sie formell eine refrainartige Funktion. Thematisch nimmt das Gedicht viele Gedanken vorweg, die Gibran vier Jahre später in seinem Hauptwerk Der Prophet näher ausführen sollte. Es ist bereits einer reiferen Phase seines Denkens zuzurechnen.[1]
Textbeispiel
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]الخير في الناس مصنوعٌ إذا جُبروا |
Der Mensch tut Gutes nur, wenn er dazu bestimmt ist; |
Analyse und Deutung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das symbolistische und transzendentalistische Gedicht ist stark von den Schriften Ralph Waldo Emersons beeinflusst, durch den sich Gibran unter anderem mit neuplatonistischen und buddhistischen Ideen vertraut machte, aber auch von denen Henry David Thoreaus, insbesondere von dessen Buch Walden.[3] Dies zeigt sich bereits in der ersten Strophe, deren Konzept von Menschen als „Maschinen“ und „Herdentieren“ nahezu wortgenau den Essays von Emerson entstammen könnte. „Schicksal“ – bei Gibran dahr, die schon in der altarabischen Dichtung vielzitierte zerstörerische Zeit – meint hier die dem Menschen von der Gesellschaft auferlegten und von ihm nur allzu bereitwillig akzeptierten Zwänge, durch die er zum Diener und Sklaven wird.
Gibran bedient sich jedoch im Unterschied zu diesen Vorbildern einer ausgesprochen suggestiven und fragmentarisch, jedoch auch gewollt erhabenen und klassizistischen Sprache. So bleibt auch unklar, ob die beiden Stimmen des Gedichtes ein und derselben Figur gehören, einem gottgleichen Narren (Madman) ähnlich dem Protagonisten der ein Jahr zuvor erschienenen ersten englischsprachigen Schrift Gibrans,[4] oder ob sie zwei verschiedenen Männern gar unterschiedlichen Alters zuzuordnen sind, einem erfahrenen Weisen und einem unschuldigen Jüngling.[5]
Rezeption
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Gedicht ist insbesondere auch durch seine Vertonung in Form des Liedes Gib mir die Flöte (أعطني الناي) sehr bekannt geworden. Die Musik stammt von Nadschīb Hankasch (1904–1979), der es mithilfe von Gabriel Migliori in den dreißiger Jahren zunächst ohne größeren Erfolg in Brasilien veröffentlichte. Nachdem er 1947 in den Libanon zurückgekehrt war, stellte er das Lied der Sängerin Fairuz vor, die es 1964 in einer von den Rahbani-Brüdern bearbeiteten Fassung interpretierte und es so im gesamten arabischen Sprachraum bekannt machte.[6] Es enthält Auszüge vor allem aus dem Epilog des Gedichtes.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Nadeem Naimy: The Mind and Thought of Khalil Gibran. In: Journal of Arabic Literature 5, 1974, S. 56.
- ↑ Übersetzung aus Khalil Gibran: Die Musik. Der Reigen. Übertragen von Ursula Assaf-Nowak und S. Yussuf Assaf. Walter Verlag, Zürich 1998, S. 40 f.
- ↑ Ahmad Y. Majdoubeh: Gibran’s “the Procession” in the Transcendentalist Context. In: Arabica 49/4, 2002, S. 477–493.
- ↑ Nadeem Naimy: The Mind and Thought of Khalil Gibran, S. 61 f.
- ↑ Vgl. insbesondere die englischsprachige Übersetzung des Gedichtes von George Khayralla: The Procession. The Wisdom Library, New York 1958.
- ↑ Ali J. Racy: The Lebanese Diaspora in Brazil and the U.S. ( vom 28. Februar 2014 im Internet Archive), Afropop Worldwide, 2013.